Die Zeit läuft.

Lauf für mehr Zeit 2015
Foto © Thomas Zöller

Ist ihnen schon mal aufgefallen, dass man Zeit gar nicht managen kann? Sie vergeht, nein, eigentlich vergehen wir und die Zeit läuft ohne uns einfach weiter. Unsere Zeit läuft unaufhaltsam ab.
Die Zeit macht was sie will. Sie interessiert sich nicht einmal für uns. Man kann auch nicht sagen, dass sie uns davon läuft. Die Zeit läuft einfach von alleine so vor sich hin.

Und irgendwie laufen wir der Zeit hinterher. Laufen ist in. So kommen wir voran. Wer nicht läuft, bleibt zurück. Wer schneller läuft, kommt schneller an. Aber wo laufen wir denn hin? Oft im Kreis oder im Hamsterrad. Laufen gibt uns zumindest das Gefühl voranzukommen. Und Laufen ist gesund und macht Spaß.

Laufen macht Spaß

Juniormarathon in Linz 2016
Juniormarathon in Linz 2016 – Foto © FOTOLUI/SPORTMEDIAPICS.COM

Stop! Halten wir mal an und betrachten dieses Bild vom Kinderlauf in Linz etwas genauer.
Wenn wir anhalten und das Bild auf uns wirken lassen, dann tut das sogar weh, finde ich. Was machen die da? Warum machen die das?

Ich befürchte, das kann jedem passieren, auch uns, wenn wir unbedingt Ziele erreichen müssen. Und was wir hier sehen, machen wir häufig auch mit uns selber. Man kann die Paare auf dem Bild auch als Kontrahenten auf unserer inneren Bühne sehen: der Erwachsene und das Kind in uns. Der Erwachsene will weiter kommen und das Kind will spielen. Pech für das Kind!

Zielorientierung

Kinderlauf Linz Erwachsener
Erwachsener weiß den Weg?

Wir interessieren uns meistens mehr für den Erwachsenen und sehen das Kind als Hemmnis, das uns im Weg steht, oder zum Beispiel als “inneren Schweinehund”, der überwunden werden muss.

National Sleep Foundation laut FR: "der Durchschnittsbürger steht gegen 6 Uhr morgens auf, der erfolgreiche Manager und Geschäftsführer meist rund eine Stunde früher"

Der Dalai Lama steht sogar um 4 Uhr auf.
Doch früh Aufstehen macht Briefträger, Köche etc. auch nicht erfolgreicher und so einfach ist es nicht. Das Kind redet mit. Die Hirnforschung verweist uns hier auf das “limbische System”, auch “emotionales Gehirn” genannt. Es stammt noch aus der Zeit, als wir Säugetiere waren und es reagiert blitzschnell mit Lust oder Unlust, schneller als wir (mit unserem Großhirn) denken können. Es lässt sich weder ausschalten noch ignorieren und irgendwie müssen wir mit ihm kooperieren. Später aufstehen?

Studie der Universität Madrid laut FR: “auch Spätaufsteher besitzen geistige Fähigkeiten, die mit besseren Jobs und mehr Einkommen in Verbindung gebracht werden”

Kinderlauf Linz Kind
Kind weiß den Weg?

Und machen wir ein kurzes Gedankenexperiment, bevor wir weiter gehen: Vielleicht ist der Erwachsene verblendet und das Kind weiß besser, wo es lang geht! Das könnte hier der Fall sein. Vielleicht ist der Erwachsene gar nicht so „erwachsen“. Vielleicht hat das Kind sogar eine kreative Idee, die uns auf die Sprünge hilft! Vielleicht hat das Kind was wichtiges zu sagen!
(Statt Erwachsener und Kind könnte man hier auch Ego und Eros oder Antreiber und Genießer sehen oder was auch immer Sie auf Ihrer inneren Bühne entdecken. Hier schauen wir weiter auf den vermeintlich „Erwachsenen“.)

Human Resources

Inzwischen haben wir ein ganzes Arsenal an Methoden entwickelt, damit der Erwachsene seine Aufgaben besser erledigen kann – oder (noch) mehr aus sich heraus holen kann.
Wir nennen das “Selbst-Management” oder “Selbst-Optimierung”. Schließlich leben wir in einer Leistungsgesellschaft. Früher haben andere unsere Ressourcen ausgebeutet. Jetzt machen wir das selber. Alles unter Kontrolle und ist möglich!? Wir sollen unsere Grenzen überwinden, oder?

“Gleichgültig, wie kreativ, aktiv und schnell wir in diesem Jahr sind,
nächstes Jahr müssen wir uns steigern!”

»humankapitalistischer Selbstverwertungsfanatismus« -- Wolfgang Streeck

Selbst-Management

Held der Arbeit Alles ist sicher nicht möglich, aber hier folgen ein paar bekannte Tipps, wie wir unsere Aufgaben leichter erledigen können:

  • Simplify your life: mit leichtem Gepäck, das gefällt auch “Limbi”
  • GTD (Getting Things Done): ToDo-Listen für alles und Änderung unserer Gewohnheiten
  • Pomodoro: 15 Minuten für eine Aufgabe, konzentriert und fokussiert, ohne Störung, Telefon, E-Mail, Twitter
  • Pareto-Prinzip: kein Perfektionismus, denn 80% des Ergebnisses wird in 20% der Zeit erreicht (80:20-Regel), Mut zur Lücke
  • 2-Minuten-Regel: Kleinigkeiten sofort erledigen oder Aufgabe streichen
  • Kanban: Alle Aufgaben im Überblick und nicht zu viel auf einmal
  • Eisenhower-Matrix: Wichtiges und Dringendes unterscheiden und beidem Platz geben
  • Spazierengehen: zwischendurch mal was anderes tun
  • im Flow: arbeitet es sich leichter, der lässt sich aber nicht “machen”
  • Drogen: bitte nicht, machen süchtig
  • … (individuell zu ergänzen)

Und Pausen?

Fähigkeiten im Digitalen Zeitalter: nicht lesen, anklicken, anschauen
Fähigkeiten im Digitalen Zeitalter
Aber am schwersten finde ich, Pausen zu machen. In Hetze, Hyperaktivität und Hamsterrad übergehen wir Pausen, auch unser Bedürfnis nach Pausen. Mal ...

  • nicht anklicken
  • nicht lesen

Über Beschleunigung in der Moderne ist schon viel geschrieben worden. Das Leben wird immer schneller. ADHS ist ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht nur Kinder betrifft.

“Erst noch schnell die Mails checken, und dann die Welt retten.”

OK, nicht die ganze Welt retten, aber sich um Fitness, Rente, Kinder oder Eltern kümmern, das Netzwerk pflegen, Weiterbildung, Anrufbeantworter abhören, Geschirr, Einkauf und iOS-Update warten schon …

Die ToDo-Listen werden immer länger. Haben Sie nicht auch das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben, obwohl sie immer mehr Zeit einsparen? Die Zeitersparnis frisst sich selber auf. Zeitnot wird nicht durch Zeitgewinn beseitigt, was man vordergründig denken könnte. Im Gegenteil, Pausen schaffen freie Zeit und beseitigen dadurch die Zeitnot, oder? Paradox?

Beschleunigungs-Zirkel

Beschleunigungszirkel
www.eilkrankheit.de

Hartmut Rosa spricht von einem “Beschleunigungs-Zirkel”: Die technische Beschleunigung führt zu einer Beschleunigung des sozialen Wandels und diese zu einer Beschleunigung des Lebenstempos, d.h. wir tun mehr Dinge in derselben Zeit, was wiederum die technische Beschleunigung vorantreibt. Wir leben in einer Welt, die sich in vielen Dimensionen gleichzeitig bewegt und verändert. Einfache Entschleunigungsratgeber helfen hier nicht weiter, weder individuell noch kollektiv, auch keine Atem-App fürs Handy.

Allerdings gehen nicht alle Dinge tatsächlich schneller. Alle wollen zwar vorwärts, aber es gibt dadurch auch Verlangsamungserscheinungen, dysfunktionale Nebenfolgen, z.B. Staus (verstopfte Straßen), Spam (verstopfte Postfächer), Burnout (Stillstand). Und es gibt Verlangsamungsbemühungen, z.B. Slow Food statt Fast Food, Allerdings haben diese sich bisher nicht wirklich durchgesetzt. Aber dies ist hier nur eine Randbemerkung. Zurück zum schnellen Leben.

Die Zeit-Soziologie beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Zeit-Verhältnissen. Angeblich schon seit dem 18. Jahrhundert berichten Menschen, dass die Gesellschaft selbst sich zu beschleunigen scheint. Und die Zeit-Soziologie stellt der Zeit-Armut den Zeit-Wohlstand gegenüber.

Zeit-Wohlstand

Grenzen des Wachstums 1972 Zeit-Wohlstand ist ein schöner Begriff, finde ich. Zeitwohlstand meint nicht die Freiheit von Arbeit, er ist definiert durch:

  • Ausmaß der “eigenen Zeit”,
  • Selbstbestimmung über die Zeit,
  • subjektive Qualität der gelebten Zeit,
  • institutionalisierte freie Zeit.

Wenn es Zeit-Wohlstand und Zeit-Armut gibt, dann stellt sich auch die Frage nach einem Zeit-Existenzminimum. Und was bedeutet Wohlstand überhaupt, wenn wir über immer mehr Dinge verfügen, jedoch über immer weniger Zeit?
Staffan B. Linder hat übrigens schon 1970 behauptet, dass Gesellschaften entweder reich an Gütern oder reich an Zeit sind.

Linder-Axiom: Güterwohlstand und Zeitwohlstand verhalten sich umgekehrt proportional.

Über die Grenzen des Wachstums wurde auch schon 1972 eindrucksvoll geschrieben.
Nehmen wir uns die Zeit, darüber eine Weile nachzudenken?

Mach mal Pause!

Das Denken ist ein wilder Affe Pausieren ist gar nicht so einfach, manchmal überhaupt nur eine Mittagspause zu machen und morgens mehr als einen “Coffee To Go”. Und wenn wir zur Stille kommen, dann merken wir erstmal den Krach im Kopf.

Die Weisen in Asien sprechen davon, dass wir alle Affen im Kopf haben.
Dabei ist das Bewusstsein eigentlich wie klares Wasser, wenn wir nicht aufgewühlt sind. Klarheit gehört für die Buddhisten zu den natürlichen, eigentlichen Eigenschaften des Bewusstseins (“heart-mind-thought”). Unser Alltagsgeist dagegen ist rastlos und leicht abzulenken, wie ungezähmte Affen und Pferde („mind-monkey will-horse”), angetrieben von Gier, Hass und Verblendung (den drei Geistesgiften im tibetischen Lebensrad). Sie fordern dazu auf, diese Affen und Pferde zu zähmen. Aber das sei hier nur im Vorbeigehen erwähnt.

Was fangen wir mit unserer Zeit an?

5 Dinge die Sterbende bereuen Somit komme ich am Schluss zu drei zentralen Fragen, wenn es um Zeitmanagement geht:

  1. Spüren wir uns bzw. sorgen wir für Ruhe, um uns spüren zu können?
  2. Wovon werden wir angetrieben?
  3. Was fangen wir mit unserer Zeit an?

Gemäß der buddhistischen Vorstellung von Ursache und Wirkung (Karma), hat nicht nur alles, was wir tun, sondern sogar auch alles, was sagen oder denken Folgen für unser/e Leben.

Es braucht Besinnung, um sich diesen Fragen zu widmen, wenn man mehr in die (eigene) Tiefe will. Man kann sich diesen Fragen auch vom Ende her nähern, rückblickend als Fragen auf dem Sterbebett. Bronnie Ware, die als frühere Krankenschwester auf einer Palliativstation viel Erfahrung mit Sterbebegleitung gesammelt hat, hat dazu das Buch “5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen” geschrieben.

Abschließend hier am Ende noch ein paar Hinweise von ihr:

Sieben Wege, um Raum (und Zeit) zu schaffen

Zeit ist knapp

Bronnie Ware: 7 Ways to Create Space:

  1. say no without guilt.
  2. choose faith, not fear.
  3. completely unplug often.
  4. schedule it in.
  5. be completely present.
  6. respect the gift of time.
  7. have no clutter.

(In deutsch: 1. Nein ohne Schuldgefühle, 2. Vertrauen statt Angst, 3. oft ganz offline, 4. Pausen einplanen, 5. ganz hier sein, 6. Zeit als ein Geschenk, 7. Ordnung halten.)

Wo geht die Reise hin?

Sky Above, Great Wind. -- Ryokan

Das Reh springt hoch, das Reh springt weit.
Warum auch nicht – es hat ja Zeit! -- H. Erhardt

Danke.

Quellen und Danksagung

Keine Antworten, aber weitere Querverweise hier:

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